ADHS zwischen den Zeilen

Der Systemische Club des Systemischen Netzwerks lud am 27. Februar 2025 zu einem besonderen Abend mit Tobias Maichin ein. Unter dem Titel „ADHS zwischen den Zeilen“ wurde eine intensive und wissensreiche Veranstaltung geboten, die den Blick auf das Thema ADHS aus einer systemischen Perspektive ermöglichte. Über 50 Teilnehmende aus den Bereichen Beratung, Coaching, Therapie und weiteren Professionen waren dabei – ein eindrucksvoller Beweis für das große Interesse an diesem Thema.
Tobias Maichin, selbst spät diagnostizierter ADHS-Betroffener und ADHS-Coach, führte die Gäste durch eine facettenreiche Präsentation. Er kombinierte theoretisches Wissen mit praktischen Methoden und schuf so eine Atmosphäre, in der offener Austausch möglich war. Seine persönliche Offenheit darüber, wie er seine eigene ADHS-Diagnose als Ressource nutzt, sorgte für viele berührende Momente.
Zentrales Zitat: ADHS als Spiegel gesellschaftlicher Strukturen
Tobias Maichin brachte es treffend auf den Punkt:
„ADHS fordert uns systemisch heraus, weil es nicht nur eine individuelle ‚Störung‘ ist, sondern ein Spiegel gesellschaftlicher Strukturen, die auf Normierung statt Vielfalt setzen – wer hier helfen will, muss nicht nur Familiendynamiken verstehen, sondern auch die Neurodivergenz als systemische Ressource begreifen und Machtstrukturen hinterfragen, die Betroffene pathologisieren, statt Räume für ihre Potenziale zu schaffen.“
Dieses Zitat unterstreicht den roten Faden des gesamten Vortrags und regt zum tieferen Nachdenken an.
Was ist ADHS? Ein systemischer Blick

Tobias begann seinen Vortrag mit einer grundlegenden Einführung in das Thema ADHS und räumte direkt mit einigen Mythen auf. ADHS sei keine „Kindheitsstörung“, sondern betreffe Menschen jeden Alters. Er stellte die drei Kernsymptome – Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität – vor und erklärte die verschiedenen Typen (unaufmerksamer Typ, hyperaktiver Typ, kombinierter Typ). Besonders wichtig war ihm, dass ADHS als Spektrum verstanden wird, dessen Ausprägungen sich im Laufe des Lebens und durch verschiedene Umweltfaktoren ändern können.
Ursachen und Entstehung: Genetik, Umwelt und Neurotransmitter
Tobias legte dar, dass ADHS stark genetisch bedingt ist. Er verwies auf Zwillingsstudien, die eine genetische Prädisposition von bis zu 80 % bei eineiigen Zwillingen zeigen. Neben den genetischen Faktoren spielen auch neurobiologische und umweltbedingte Einflüsse eine Rolle. Besonders eindrücklich waren seine Ausführungen zur Funktion der Neurotransmitter Dopamin, Noradrenalin und Serotonin, die bei Menschen mit ADHS oft im Ungleichgewicht sind.
Systemische Lücken im Umgang mit ADHS
Ein zentraler Punkt des Vortrags war die Darstellung der „systemischen Lücken“ im Umgang mit ADHS. Tobias verdeutlichte, dass ADHS-Betroffene oft an den Strukturen scheitern, die nicht auf ihre neurodivergenten Bedürfnisse angepasst sind. Ob im Bildungssystem, in Familienstrukturen oder im Gesundheitswesen – immer wieder treffe man auf Unverständnis, Stigmatisierung und fehlende Ressourcen.
Praktische Ansätze und Methoden: Von Psychoedukation bis Hyperfokus
Um ADHS-Betroffene systemisch gut begleiten zu können, präsentierte Tobias eine Reihe von Methoden. Er betonte die Wichtigkeit der Psychoedukation, Akzeptanzförderung und Alltagsstrukturierung. Besonders hilfreich seien Methoden, die auf Individualität setzen, z. B. kreative Ansätze, der gezielte Einsatz des Hyperfokus oder der Aufbau von Routinen. Auch die Arbeit mit Visualisierungen und die Nutzung digitaler Tools wie „Todoist“ oder der „Structured“ und “Tiimo”-Planer kamen zur Sprache.
Gesprächsnachstellung: Perspektivwechsel ermöglichen
Ein besonderes Highlight des Abends war die Gesprächsnachstellung, die eingeblendet wurde und die Tobias gemeinsam mit Annika Franzke präsentierte. In einer fiktiven Therapiesituation wurde verdeutlicht, welche inneren Dialoge Menschen mit ADHS oft begleiten. Diese Darstellung regte die Teilnehmenden zu intensiven Reflexionen und einem Perspektivwechsel an.
Buchtipps und Links: Wissen vertiefen
- „Kirmes im Kopf“ von Angelina Boerger: Link zum Buch
- „Die Welt der Frauen und Mädchen mit ADHS“: Beltz Verlag
- „Der Mini ADHS Guide“ von Alice Gendron
- „A feminist guide to ADHD“ von Janina Maschke
- „Hirngespinste“ von Lisa Vogel
- „Kopf über Wasser im Alltagschaos“ von KC Davis
- „Das große ADHS-Handbuch für Eltern / Das große ADHS-Handbuch für Erwachsene” von Dr. Russel Barkley
- „ADHS ist kein Makel” von Edward M. Hallowell und John Ratey
ADHS neu gedacht

Der Systemische Club „ADHS zwischen den Zeilen“ bot nicht nur theoretisches Wissen, sondern schaffte auch Raum für Reflexion und wertvolle Erkenntnisse. Tobias Maichin hat mit seiner tiefgehenden und differenzierten Betrachtung einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, das Thema ADHS aus dem rein pathologischen Kontext zu holen und stattdessen die Potenziale und Chancen von Neurodiversität in den Vordergrund zu rücken.
Mehr über Tobias Arbeit erfahrt ihr auf seinem Instagram-Account: https://www.instagram.com/neurodivercare/
Herzlichen Dank an alle Beteiligten und bis zum nächsten Systemischen Club!
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Systemische Beraterin (dgsf-zertifiziert), Stressmanagement-Trainerin und Prozessbegleiterin in der digitalen Transformation | Schwerpunkte: Digitale Balance und digitale Resilienz | Gründerin des Online-Magazins „Systemisches Netzwerk“
Mit ihren Angeboten (Workshops, Begleitung, Coachings, Vorträge) möchte Sandra zum Perspektivwechsel einladen, vor allem Mut machen neue Pfade zu erkunden und zuversichtlich in Richtung Zukunft zu blicken. Sandra unterstützt Menschen und Organisationen dabei, mehr Gelassenheit und Widerstandsfähigkeit im Umgang mit Veränderungen zu entwickeln.
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