Das Impostor Syndrom

Das Impostor Syndrom

Hochstapler Jenga Turm

Jan van der Koelen berichtet in diesem Artikel vom Impostor Syndrom: Wenn Selbstzweifel zur Stärke werden und was das mit dem systemischen Arbeiten zu tun hat.

„Bis heute begleitet mich manchmal ein Grundgefühl, dass ich eigentlich ein Hochstapler bin, der mehr vorgibt zu sein, als er ist…“ 

Arist von Schlippe, ehemaliger Vorsitzender der „Systemischen Gesellschaft“

Mich berührt das offene Bekenntnis eines geschätzten Kollegen im Arbeitskontext. Es half mir, ebenso offen mit meinem gelegentlichen Hochstapler-Gefühl umzugehen und einen ressourcenorientierten Umgang damit zu finden. 

Wer von euch kennt das Gefühl, jeden Moment auffliegen zu können? Vielleicht kennt ihr das ungute Gefühl im Bauch, wenn man glaubt, die eigenen Fähigkeiten nicht zu besitzen, diese Angst vor dem Scheitern und die Überzeugung, nur Glück oder Zufall zu haben.

Dabei sind wir beim genaueren Hinsehen doch recht gut und können stolz auf gelingende Momente blicken. Wir sind also doch gar nicht so schlecht, oder? Wir sprechen vom „Impostor Syndrom“, auch „Hochstapler-Syndrom” genannt, und in diesem Artikel möchte ich aufzeigen, wie aus Selbstzweifeln Stärke werden kann und dadurch wachstumsfördernde Prozesse möglich werden.  

Was ist das Impostor Syndrom?

Das Syndrom wird nicht als Störung oder Krankheit eingestuft und ist somit nicht im ICD-11 oder im DSM-5 aufgeführt, daher wird in der Wissenschaft und in der Psychotherapie der Begriff „Syndrom“ vorzugsweise vermieden. Wir können hier alternativ auch von „Phänomen“ oder „Effekt“ sprechen. Dennoch belegen einige Studien die kleinen und großen Auswirkungen dieses Phänomens. Bereits 1978 haben Clance und Imes nachgewiesen, dass erfolgreiche und nachweislich gut ausgebildete Frauen große Selbstzweifel an der eigenen Kompetenz benannten und die eigenen Erfolge nicht verinnerlichen konnten. Aus anderen Studien wird deutlich, dass es Männer wie Frauen gleichermaßen betrifft. Einige Studien gehen sogar davon aus, dass bis zu 70% aller Menschen im Laufe ihres Lebens schon einmal das Gefühl hatten, nicht gut genug zu sein oder nur Glück gehabt zu haben.

Das Impostor Syndrom ist ein Phänomen, bei dem Menschen glauben, ihren Erfolg nicht verdient zu haben. Sie halten sich nicht für gut genug und für nicht würdig. Häufig tritt es auch bei Menschen auf, die gerade eine neue Herausforderung annehmen oder etwas Neues lernen. Oftmals fühlen sich Menschen mit dem Impostor Syndrom wie Betrüger und befürchten, dass ihr Erfolg nur auf Glück, Zufall oder darauf beruht, dass andere uns überschätzen. Es kommt der Gedanke auf, dass man in keinem Fall so klug, begabt und fähig ist, wie „die anderen“ einen einschätzen. Es ist, als würde man nur so tun, als ob man erfolgreich oder kompetent wäre. In Wirklichkeit fühlen sich betroffene Menschen aber innerlich unsicher und denken, dass irgendwann die vermeintliche Wahrheit ans Licht kommt und sie entlarvt werden. Diese Selbstzweifel behindern nicht selten im Leben und in der Karriere.

Jan van der Koelen

Oft ist es jedoch so, dass genau diese Selbstzweifel die treibende Kraft für noch mehr Erfolg sind. Denn wer denkt, er/sie/es könne es nicht schaffen, der/die kann sich angespornt fühlen, um seine/ihre Zweifel zu widerlegen. So kann das Impostor Syndrom also auch zur Stärke werden und einen/eine motivieren, noch besser zu werden. 

Wenn wir uns also das Impostor Syndrom aus systemischer Sicht ansehen, ist es wichtig, neben den negativen Auswirkungen, auch die noch zu Beginn unscheinbar erscheinenden positiven Aspekte zu berücksichtigen.

Wie man das Impostor Syndrom aus systemischer Sicht betrachten kann

„Das ist vielleicht noch die andere Seite dieses „Hochstapler-Gefühls“, dass es mir hilft, nicht abzuheben und überheblich zu werden.“.

Arist von Schlippe

Angelehnt an den Gedanken Arist von Schlippes ist meine systemische Sichtweise ist von einer inneren wohlwollenden und kooperativen Haltung geprägt. Ich versuche entsprechend, meinen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen „einen guten Grund“ zu unterstellen, das heißt hier, dass ich aus meinen Selbstzweifeln heraus durchaus einige Aspekte meiner Persönlichkeit stärken kann. Zum Beispiel kann diese Sichtweise mir helfen, mich selbst zu überprüfen und sicherzustellen, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Die Selbstzweifel machen mich bescheiden, und sie helfen mir, stets mein Bestes zu geben. Es kann mir auch dabei helfen, meine Leistungen zu reflektieren und zu verbessern. Es kann mir dabei helfen, motiviert zu bleiben und mich weiterzuentwickeln.

Viele Menschen mit dem Hochstapler-Syndrom sind sehr kreativ und erfindungsreich. Sie denken häufig über neue Ideen nach und sind sehr kreativ, wenn es darum geht, diese Ideen umzusetzen. Auch wenn sie oft unter Selbstzweifeln leiden, so sind sie doch meistens sehr motiviert und arbeiten ausdauernd an ihren Zielen. Viele Menschen, die einen Umgang mit dem Hochstapler-Syndrom gefunden haben, haben auch ein starkes Selbstbewusstsein. Sie wissen, was sie können und setzen sich häufig hohe Ziele. 

Es gibt unterschiedliche Methoden, das Impostor-Syndrom für sich nutzbar zu machen. Es ist hier mit am wichtigsten, die eigene innere Haltung zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern. Eine systemische Betrachtung des Impostor-Syndroms kann helfen, es positiv zu reflektieren und wie oben beschrieben umzudeuten. Dabei werden die Selbstzweifel nicht als negatives Merkmal angesehen, sondern als etwas, das auf eine positive Einstellung hinweist. Durch das Reframing der Selbstzweifel und die Betonung der eigenen Kompetenz wird es möglich, dem Impostor Syndrom einen guten Grund zu unterstellen und es für sich nützlich zu machen. 

Neben dem Umdeuten ist auch das Transformieren von negativen Glaubenssätzen in positive unterstützend. Beispielweise kann aus „Ich bin nicht gut genug“ der Satz „Ich kann/darf gut genug sein“ oder „Ich habe mich bereits bewährt“ werden. Wenn diese Sätze immer wieder aufgeschrieben und gesagt werden, hat das einen unmittelbaren Einfluss auf den Organismus und das eigene Empfinden. Hieraus kann Selbstsicherheit und das Vertrauen in das eigene Potenzial wachsen.

5 Anregungen für mehr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten

1. Anregung:

Stelle dir deine Zweifel vor und nehme diese an!
Akzeptiere sie als gegeben und begegne ihnen mit einer wohlwollender Haltung. Wenn du anfängst, an dir selbst zu zweifeln, ist es wichtig, diese Zweifel nicht einfach zu ignorieren oder wegstoßen zu wollen, denn Druck erzeugt immer Gegendruck. Stattdessen solltest du dich ihnen stellen und versuchen, mehr über deine Fähigkeiten und dein Potenzial zu erfahren. Durch das Lernen über deine Stärken und Talente kannst du deinen Selbstzweifeln entgegentreten und mehr Vertrauen in dich selbst aufbauen. 

2. Anregung:

Setze dir kleine Ziele und feiere jeden Erfolg!
Durch das Erreichen kleiner Ziele kannst du dir selbst beweisen, dass du fähig bist und Vertrauen in deine Fähigkeiten aufbauen. Auch das Feiern jedes Erfolgs ist wichtig, da es dir hilft, positiv über dich selbst zu denken und mehr Selbstvertrauen zu entwickeln. Halte die Ziele und erreichten Erfolge bildlich und schriftlich fest. 

3. Anregung:

Tu etwas Neues und kreiere eine innere Fehlerfreundlichkeit!
Ein weiterer guter Weg, um mehr Selbstvertrauen aufzubauen, ist es, etwas Neues auszuprobieren und sich Fehler zu erlauben. Durch das Ausprobieren neuer Dinge lernst du mehr über dich selbst und deine Fähigkeiten. Fehler zu machen ist deshalb wichtig, weil es dir hilft, herauszufinden, was du noch verbessern könntest. Durch das Tun von Neuem und das Machen von Fehlern lernst du mehr über dich selbst und baust so Vertrauen in deine Fähigkeiten auf.

4. Anregung:

Suche dir Unterstützung bei anderen Menschen!
Wenn du anfängst, an dir selbst zu zweifeln, ist es oft hilfreich, Unterstützung bei anderen Menschen zu suchen. Durch das Gespräch mit Freunden, Familie oder vertrauten Arbeitskollegen und -kolleginnen über deine Zweifel kannst du mehr über dich selbst erfahren und herausfinden, ob diese Zweifel berechtigt sind oder nicht. Oft können andere Menschen uns helfen, unsere Fähigkeiten für uns besser einschätzbar zu machen, und uns Mut machen, unser volles Potenzial auszuschöpfen. 

5. Anregung:

Richte deine Aufmerksamkeit auf positive Gedanken!
Zuletzt ist es wichtig, positiv zu bleiben und wohlwollende Selbstgespräche zu führen, die Mut machen und die eigenen Kompetenzen aufzeigen. Auch wenn es manchmal schwer erscheint, ist es immens hilfreich, an die gelungenen Momente zu denken und sich bewusst zu machen, wie der Erfolg durch die eigene Handlung zustande gekommen ist. Durch eine positive innere Einstellung kannst du mehr Vertrauen in dich selbst aufbauen und deinen Selbstzweifeln entgegentreten.

Fazit

Das sogenannte Impostor Syndrom ist weit verbreitet und trifft viele Menschen – auch erfolgreiche Menschen. Steve Jobs, Emma Watson, Tom Hanks, Michelle Obama oder Arist von Schlippe haben alle öffentlich über ihr empfundenes Hochstapler-Syndrom gesprochen. Wenn also auch du unter Selbstzweifeln leidest, weißt du jetzt: Du bist in guter Gesellschaft, und es lohnt sich, einen ressourcenorientierten Umgang zu entwickeln.

Es ist also kein Grund, sich zu schämen oder zu denken, man sei allein mit den eigenen Selbstzweifeln. Ganz im Gegenteil: Selbstzweifel können positiv, unterstützend und nützlich sein. Sie sind ein natürlicher Teil der Persönlichkeitsentwicklung und helfen uns, unsere Grenzen zu erkennen und zu erweitern. So können wir uns stetig verbessern und unseren Erfolg auf lange Sicht sichern und genießen.

Quellen:

Clance, Pauline Rose (1985): Erfolgreiche Versager. Das Hochstapler- Phänomen. München

Clance, Pauline R.; Imez, Suzanne (1978): The Impostor Phenomenon in High Achieving Woman. Dynamics and Therapeutic Intervention. In: Psycho- therapy, Theory, Research and Practice 15, 241–247 

Erkunden, erinnern, erzählen: Interviews zur Entwicklung des systemischen Ansatzes / Wolf Ritscher/Tom Levold/Dörte Foertsch/Petra Bauer (Hg.) – Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht

EIN KOMMENTAR

Heike Kessel

Lieber Jan van der Koelen,

vielen Dank für diesen Beitrag. Das Syndrom war mir bekannt, nun habe ich einen Namen und gute Beschreibung dazu. Möglicherweise ist er nicht nur für unsere systemische Arbeit hilfreich, sondern ermöglicht vielen Coachees und Klienten einen anschlussfähigeren Umgang mit den eigenen Unsicherheiten zu erlangen.

Herzliche Grüße
Heike Kessel

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