Tetralemma „Partnership Edition“
Kim-Maya Modrow hat die Methode des Tetralemmas aus unserer Methodensammlung für ihre Arbeit als systemische Beraterin und Kindheitspädagogin genutzt und es im digitalen Raum in ihrer Arbeit ausprobiert. In diesem Blog-Artikel berichtet sie aus ihrer praktischen Erfahrung und lässt uns an dieser teilhaben. Im folgenden beschreibt sie ihre Erfahrung aus der Ich-Perspektive.
Das Tetralemma ist eine meiner Lieblingsmethoden, weil sie so befreit. Das „Entweder-Oder“ in unserem Kopf wird aufgelöst und es schärft sich der Blick für all das, was noch möglich wäre. Selbst bei scheinbar unauflöslichen Dilemmata wie „In Hamburg bleiben oder nach Berlin ziehen?“ entstehen durch diese Methode zahlreiche neue Ideen. Für mich als Beraterin ist es auch jedes Mal eine spannende Situation, weil mir selbst oftmals wirklich nichts einfällt, was diese gegensätzlichen Positionen verknüpfen könnte. Doch den Klient*innen fällt immer etwas ein! Dies ist also auch ein tolles Beispiel dafür, dass die Klient*innen die wahren Expert*innen ihres Problems sind.
Warum „Partnership Edition“?
Neulich hatte ich die Chance, das Tetralemma mal interpersonell auszuprobieren: Das Dilemma bestand also nicht innerhalb einer Person, sondern zwischen zweien. Dies erfordert eigentlich nur wenige Änderungen und auch nicht zwingend mehr Zeit. Zusätzlich zu bedenken war allerdings, dass die Beratung als Videokonferenz stattfand und nicht länger als insgesamt 90 Minuten dauern sollte. Ich lege im persönlichen Kontakt gerne die verschiedenen Positionen als Bodenanker aus und bitte die Klient*innen, sich darauf zu stellen. So kann man auch körperliche Reaktionen zu der Position leichter wahrnehmen.
Da die Klient*innen und ich jedoch vor dem Bildschirm saßen und ich es mir hektisch vorstellte, wenn beide Ratsuchenden ständig „aus dem Bild“ laufen, habe ich mir andere Hilfsmittel gesucht. Es folgt hier nun eine leichte Abwandlung des Tetralemmas. Und trotz des Titels „Partnership Edition“ denke ich, dass dieser Ablauf auch für Gruppen, z.B. Teams oder Familien, geeignet sein könnte.
Das Dilemma
Für den Anfang ist es besonders zeitsparend, wenn das Dilemma schon klar ist. In meinem Fall handelte es sich um eine Folgeberatung, die vorangegangene „Verhandlung“ der beiden Personen hatte nicht zum Ziel geführt. Daher war schon gut ausformuliert, was das Dilemma ist. Ich habe (auch um Zeit zu sparen) beide Positionen nacheinander mit einem Satz wiedergegeben und mich bei der jeweiligen Person rückversichert, dass der Satz gut passt. Bei Bedarf kann mit der jeweiligen Person eine alternative Formulierung gesucht werden.
Position A: „Das Eine“
Position A ist das Wunschergebnis der Person A. Zum Beispiel wünscht die 16-jährige Tochter, dass sie selbst entscheiden darf, wann sie abends heimkommt. Oder ein Klient wünscht sich von seiner Partnerin, dass mehrmals in der Woche gemeinsame Aktivitäten unternommen werden. Im beruflichen Kontext könnten sich einige Mitarbeiterinnen flexiblere Arbeitszeiten wünschen. Nachdem verdeutlicht wurde, wofür die Position A steht, bitte ich beide Parteien, sich in diese Position hineinzuversetzen und dabei davon auszugehen, dass auch die Position des Anderen auf etwas Nützliches hinweist. Langsam stelle ich folgende Fragen und bitte sie, dazu einige Notizen zu machen:
- Was ist der Nutzen dieser Position? Welche Vorteile bringt sie mit sich?
- Was könnten Nachteile und Kosten sein?
- Welche Gedanken schießen Ihnen durch den Kopf, wenn Sie sich vorstellen, dass diese Position umgesetzt wird?
- Welche Gefühle wird durch diese Vorstellung bei Ihnen ausgelöst? Wo spüren Sie diese im Körper?
- Auf einer Skala von 1-10: Wie wahrscheinlich ist es aus Ihrer Sicht, dass es Ihrer Beziehung/Ihrem Team/Ihrer Familie gut tut, wenn diese Position umgesetzt wird? Wie werden sich die einzelnen Personen fühlen und verhalten? Welche Auswirkung hat dies auf Sie alle? Bitte notieren Sie eine Zahl.
Position B „Das Andere“
Position B wird ebenfalls in einem Satz zusammengefasst und es folgen die gleichen Fragen und Anweisungen wie oben. Der Unterschied zum Tetralemma in der Einzelberatung ist, dass es zunächst keinen Austausch gibt, sondern jede*r für sich nachdenkt. Eine „stille Phase“ halte ich im interpersonellen Konflikt bei allen Positionen für ganz wichtig, damit sich die Parteien nicht auf auf ein Argument und ein Gegenargument einschießen, sondern wirklich erst für sich in die Position einfühlen können und ganz in Ruhe Gefühle, Widerstände oder kreative Gedanken erkunden können. Die Einschätzung auf der Skala hilft später, eine knackige Rückmeldung zur Position zu erhalten. Wenn ich den Eindruck habe, dass beide Parteien fertig geschrieben haben und nicht mehr nachdenken, gehe ich zur nächsten Position über. Sollte es – anders als in meinem Fall – vorher keinen Austausch über die verschiedenen Positionen gegeben haben, kann es diesen selbstverständlich an dieser Stelle geben. Hierfür ist aus meiner Sicht eine zeitliche Rahmung sinnvoll, damit ausreichend Zeit für die anderen Positionen des Tetralemmas bleibt.
Position C „Sowohl als auch“ (die übersehene Verbindung)
Diese Position wird wie beim Tetralemma üblich eingeleitet. Wieder bitte ich beide aufzuschreiben, was ihnen in den Kopf schießt, wenn sie an Möglichkeiten des „Sowohl als Auch“ denken. Auch Gefühle dazu sowie die Einschätzung auf der Skala sollen notiert werden. Im Anschluss bietet sich an, nachzufragen, woran sie gedacht haben, um miteinander kreative Ideen auszutauschen. Hierbei ist wichtig, die Diskussion immer wieder zu öffnen. „Aha, tolle Idee! Was gibt es sonst noch?“ Wenn beiden auch nach einigen Minuten nur wenig einfällt, biete ich einige Arten des „Sowohl als auch“ an und frage, was das konkret in ihrem Dilemma bedeuten könnte. Hier eine Auflistung möglicher Verbindungen eines Dilemmas (angelehnt an Remmert).
- Kompromiss: Jede*r rückt von Ideal ab und macht Abstriche.
- Mischung: Die Vorteile beider Optionen miteinander verbinden.
- Bereichsaufteilung: Jede*r setzt in seinem Bereich die von ihm/ihr favorisierte Lösung um.
- Temporär: Wann ist das eine und wann das Andere richtig?
- Scheingegensatz: Geht es vielleicht hintergründig um etwas anderes? Z.B. um Vertrauen?
- Paradoxe Verbindung (Störungen gehören zum Lösungsprozess): Wofür ist diese Störung/der Konflikt nützlich? Inwiefern ist die zwischenmenschliche Spannung produktiv?
- Dimensionserweiterung (Wahrnehmung und Achtung des Unterschiedes): Wie können Sie beide Positionen respektieren und nebeneinander stehen lassen? Aus welchem Grund hat die andere Position ihre Berechtigung? Es gibt einen Unterschied zwischen Akzeptanz und Zustimmung. Aus diesem Respekt kann eine neue Verhandlungsgrundlage entstehen.
- Übersummative Verbindung („Ein Kind ist mehr als die Summe seiner Eltern“): Was entsteht „Größeres“, wenn beide Positionen zusammengeführt werden?
- Mehrdeutigkeit: Ein Ziel kann durch seine Eindeutigkeit zu sehr abgegrenzt sein. Das Changieren zwischen zwei Zielen bzw. Visionen kann mehr Flexibilität, Offenheit und Adaptionsmöglichkeiten zulassen. Solange etwas offengelassen wird, kann ein Gespräch noch weitergeführt werden und vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt eine Einigung erzielt werden.
- Prämissenverschiebung: Überprüfung der Vorannahmen z.B. „Zeit ist gleich Beziehungsqualität“.
Ich lasse die Parteien miteinander in einen Austausch kommen, welche Verbindungen sie zwischen ihren Positionen sehen. Häufig kommt bei beiden der Gedanke auf, dass es für das System positiver wäre, wenn C umgesetzt würde statt A oder B. Eine Einigkeit darüber, dass es besser wäre, wenn es keinen „Verlierer“ gäbe, schafft einen neuen Fokus darauf, wie eine C-Möglichkeit aussehen könnte. Nach einiger Zeit leite ich dann dazu hinüber, dass es im Tetralemma noch eine vierte Position gibt.
D „Weder das Eine noch das Andere“ (der übersehene Kontext)
Erneut bitte ich, Notizen zu Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen zu folgenden Fragen zu machen (Fragen teilweise aus der Methoden-Beschreibung Tetralemma übernommen):
- Was wäre, wenn Sie weder das Eine (A) noch das Andere (B) umsetzen würden?
- Welche Möglichkeiten gäbe es noch?
- Was wäre stattdessen?
- In welchen Situationen entsteht das Dilemma nicht?
- Wozu dient das Dilemma? Welchen Nutzen hat es?
- Woran würden Sie merken, dass ein Wunder geschehen ist und die Lösung da ist?
- Auf einer Skala von 1-10: … (s.o.)
Auch nach dieser Position frage ich, was die Klient*innen miteinander austauschen wollen und welche neuen Erkenntnisse sie hatten. Ich moderiere, übersetze, reframe, etc. und leite dann zur letzten Position über.
E „All das nicht und selbst dieses nicht“ (die Überschreitung des Rahmens)
- Wenn Sie mit etwas Abstand die vier Optionen betrachten, was taucht dann in Ihnen auf?
- Welche der Optionen hat sich für Sie besonders gut angefühlt und zieht Sie an?
- Wo zieht es Sie nicht hin?
- Wenn Sie keine der Optionen wählen würden, was gäbe es dann noch?
- Wenn Sie alle Optionen in Zusammenhang mit Ihrem Leben und Wünschen stellen, was taucht dann in Ihnen auf? (s. Methoden-Beschreibung Tetralemma)
- Auf einer Skala von 1-10: … (s.o.)
Nach einigen Minuten, die jede*r für sich nachdenkt, gebe ich beiden Parteien die Möglichkeit, sich zu den Fragen zu äußern.
Abschluss
Nun frage ich, wie die Gefühlslage nun am Ende der Methode ist.
- Was geht es Ihnen jetzt?
- Was nehmen Sie aus dem Austausch mit?
- Welche ganz neuen Gedanken und Erkenntnisse gab es?
- Wie ordnen sich die Positionen auf der Skala an? Welche Position ist also am positivsten für das System einzuschätzen? (Hier kann eine Visualisierung angefertigt werden, um zu sehen, wo die Parteien sich womöglich angenähert haben.)
Abschließend kläre ich, was der nächste Schritt sein könnte. Vielleicht wurde im Laufe des Gesprächs eine Lösungsidee entwickelt, die näher besprochen oder direkt ausprobiert werden soll. Vielleicht haben sich jedoch auch Haltungen verändert und es soll in eine neue Verhandlungsphase eingetreten werden. Manchmal braucht es nach einer so intensiven Arbeit auch etwas Bedenkzeit.
Wir danken Kim-Maya Modrow für diesen tollen Artikel zum Tetralemma und laden euch alle ein, auch eine unserer Methoden aus der Methodensammlung auszuprobieren. Ihr dürft auch gerne von eurer praktischen Erfahrung davon berichten.
Mit ihren Kursen und Beratungen möchte Kim-Maya Modrow Eltern dabei unterstützen, ein erfülltes Familienleben zu gestalten. Sie ist davon überzeugt, dass dies am besten gelingt, wenn sowohl die Bedürfnisse der Kinder als auch die Bedürfnisse der Eltern Berücksichtigung finden. Um die Beziehung zwischen Eltern und Kindern besser zu verstehen, holt sie auch manchmal die Videokamera heraus. In der Zeitlupe können sie und die Eltern dann entdecken, wie ihr Familiensystem funktioniert. Die Kindheitspädagogin und systemische Beraterin steht den Eltern dabei mit ihrem Wissen zur Seite.
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